Tortendiagramm der Lebensräume, die im Faktencheck Artenvielfalt untersucht wurden.

Pressemitteilung · 1. Oktober 2024

Faktencheck Artenvielfalt veröffentlicht

Faktencheck Artenvielfalt zeigt erstmals, wie es um die biologische Vielfalt in Deutschland steht


Mehr als die Hälfte der natürlichen Lebensraumtypen in Deutschland weist einen ökologisch ungünstigen Zustand auf, täglich verschwinden weitere wertvolle Habitatflächen. Die Konsequenz: Populationen von Arten schrumpfen, verarmen genetisch oder sterben aus – mit direktem Einfluss auf die Leistungsfähigkeit und Funktionsweise von Ökosystemen. Ein Drittel der Arten sind gefährdet, etwa drei Prozent sind bereits ausgestorben. Der „Faktencheck Artenvielfalt“ zeigt erstmals umfassend, wie es um die Biodiversität in Deutschland tatsächlich steht, identifiziert deren Trends und Treiber, gibt aber auch Empfehlungen, dem Verlust entgegenzuwirken und arbeitet Forschungsbedarfe heraus.

Berlin/Frankfurt, 01.10.2024. In kaum einem Land wird so viel zur biologischen Vielfalt geforscht wie in Deutschland. Für den Faktencheck Artenvielfalt (FA) haben mehr als 150 Wissenschaftler*innen von 75 Institutionen und Verbänden nun die Erkenntnisse aus über 6000 Publikationen ausgewertet, und in einer eigens dafür entwickelten Datenbank zusammengeführt. Um langfristige Entwicklungen zu erkennen, haben sie einen bisher noch nicht dagewesenen Datensatz von rund 15.000 Trends aus knapp 6200 Zeitreihen erstellt und analysiert. „Der Faktencheck Artenvielfalt ist weltweit eines der ersten Beispiele, wie große internationale Berichte – wie die globalen und regionalen Assessments des Weltbiodiversitätsrates IPBES – auf einen nationalen Kontext zugeschnitten aussehen können; mit dem Ziel, Handlungsoptionen für die konkrete nationale und subnationale Politik aufzuzeigen und zu entwickeln.“ erklärt Christian Wirth, Professor an der Universität Leipzig und Mitherausgeber des FA.

Die Ergebnisse sind ernüchternd. Insgesamt sind 60 % der 93 untersuchten Lebensraumtypen in einem unzureichenden oder schlechten Zustand. Am schlechtesten steht es um ehemals artenreiche Äcker und Grünland, Moore, Moorwälder, Sümpfe und Quellen. Der FA stellt nur wenige positive Entwicklungen fest, wie beispielsweise in Laubwäldern – doch diese werden akut vom Klimawandel bedroht.

10.000 Arten in Deutschland sind bestandsgefährdet

Von den 72.000 bekannten in Deutschland heimischen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten wurden bislang erst 40 % auf die Gefährdung der Population hin untersucht. Von diesen Arten ist fast ein Drittel bestandsgefährdet. Die Gefährdung nimmt zu bei Arten des Agrar- und Offenlandes und in anderen, vor allem in artenreichen Gruppen wie Insekten, Weichtiere oder Pflanzen. „Die Zeitreihen zeigen, dass sich die Trends der Lebensräume und Populationen nun auch in der biologischen Vielfalt von Lebensgemeinschaften niederschlagen. Naturnahe Lebensgemeinschaften beginnen an Arten zu verarmen. Gleichzeitig sehen wir eine beschleunigte Verschiebung hin zu neuartigen Lebensgemeinschaften mit zunehmendem Anteil gebietsfremder Arten“ sagt Jori Maylin Marx, Wissenschaftlerin an der Universität Leipzig und Mitherausgeberin des FA.

Besonders wenige Daten gibt es über die Bodenbiodiversität und die Artenvielfalt in den stetig wachsenden urbanen Räumen. „Wo die Datengrundlage vorhanden ist, stellen wir ein anderes Problem fest: Es gibt kein einheitliches, arten- und lebensraumübergreifendes System, um biologische Vielfalt zu erfassen. Das erschwert die Verknüpfung von Daten – und damit die wissenschaftliche Auswertung. Außerdem fehlen Langzeitdokumentationen. Der Großteil der von uns ausgewerteten Zeitreihen war zu kurz, um statistisch signifikante Trends zu ergeben“, erklärt Helge Bruelheide, Professor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Mitherausgeber des FA. „Durch die unzureichende Datengrundlage sind auch die genauen Ursachen des Verlusts biologischer Vielfalt nur ungenügend bekannt. Das liegt vor allem daran, dass die von uns Menschen verursachten Einflüsse bislang entweder gar nicht oder nur unvollständig und in den meisten Fällen unabhängig von der Erfassung der biologischen Vielfalt erhoben werden“, ergänzt Josef Settele, Leiter des Departments Naturschutzforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) und Mitherausgeber des FA.

Mit gezielten Maßnahmen den Biodiversitätsverlust stoppen

Klar belegbar ist, dass der Verlust von Lebensräumen und die Intensivierung der Nutzung von Kulturlandschaften den stärksten negativen Effekt auf die biologische Vielfalt haben, auch erste Auswirkungen des Klimawandels werden sichtbar. Die Intensivierung der Landwirtschaft hat negative Effekte in fast allen Lebensräumen, nicht nur im Agar- und Offenland, und bietet damit den größten Hebel für biodiversitätsschützende Ansätze. Der FA zeigt auch positive Entwicklungen einiger Artengruppen und Lebensräume, z.B. durch die Verbesserung der Wasserqualität unserer Flüsse und die Förderung natürlicher Strukturelemente in Wäldern und in der Agrarlandschaft. „Das zeigt, dass wir mit gezielten Maßnahmen den Biodiversitätsverlust stoppen können,“ erklärt Nina Farwig, Professorin an der Universität Marburg und FA-Mitherausgeberin. „Für eine echte Trendwende müssen wir die Natur verstärkt wiederherstellen. Vor allem aber müssen wir lernen, mit der Natur zu wirtschaften – nicht gegen sie. Das kann auch bedeuten, dass wir ökologische Folgekosten in Wirtschaftsberichten bilanzieren. Vor allem müssen neue biodiversitätsbasierte Landnutzungssysteme entwickelt werden. Moderne Technologien können hierbei helfen“. 

Rechtliche und förderpolitische Instrumente der Naturschutzpolitik sind unzureichend umgesetzt oder vollzogen, oft durch eine fehlende Abstimmung mit anderen Nutzungsinteressen, kritisiert der FA. Förderungen knüpfen oft an die reine Durchführung biodiversitätsfördernder Maßnahmen an, dagegen versprechen erfolgsbasierte finanzielle Anreize einen größeren positiven Einfluss. Eine größere Verbindlichkeit könnte der Biodiversitätsschutz auch dadurch erhalten, wenn er an höherrangige Rechte geknüpft würde, beispielsweise in Form eines Menschenrechts auf gesunde Umwelt oder eines grundgesetzlich gewährleisteten Eigenrechts der Natur. Für das hierzu notwendige weitreichende Umdenken liefert FA Empfehlungen, denn die Wissenschaftler*innen haben erfolgreiche Projekte analysiert, um die Bedingungen für Transformation zu verstehen. Sie identifizieren eine Vielfalt von Motivationen und Akteur*innen, gelungene Partizipation und auch ökonomischen Nutzen als entscheidende Faktoren für erfolgreiche Ansätze.

Biologische Vielfalt zahlt sich aus

Biologisch vielfältige Ökosysteme sind leistungsfähiger und stabiler. Sie versorgen Menschen mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen, sie halten die Nährstoffkreisläufe aufrecht, schützen das Klima, halten das Wasser in der Landschaft. „Der Erhalt der Biodiversität sichert unser Wohlergehen, aber auch das Wirtschaften. Schützen wir die biologische Vielfalt, schützen wir also uns selbst“, erklärt Volker Mosbrugger, Sprecher der Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt (FEdA), in der das Bundesministerium für Bildung und Forschung den Faktencheck Artenvielfalt gefördert hat. „Mit dem Faktencheck Artenvielfalt ist ein höchst beeindruckendes Referenz- und Nachschlagewerk entstanden, das die wissenschaftliche Basis legt, um praxisnahe, wirksame Maßnahmen zum Biodiversitätserhalt in Deutschland zu ergreifen.“

Der wissenschaftliche Bericht „Faktencheck Artenvielfalt. Bestandsaufnahme und Perspektiven für den Erhalt der biologischen Vielfalt in Deutschland“ erscheint am 1.10. im oekom-Verlag und steht online zum kostenlosen Download bereit. Er wird flankiert von einer Zusammenfassung für die gesellschaftliche Entscheidungsfindung.

Weitere Informationen zum Faktencheck unter: www.feda.bio/faktencheck

In der Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt (FEdA) fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) wissenschaftliche Projekte zur Analyse der Biodiversität in Deutschland sowie zur Entwicklung und Umsetzung innovativer, effektiver Maßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der biologischen Vielfalt. Derzeit gehören 39 Projekte zur FEdA. Die Initiative unterstützt dabei im Sinne einer „transformativen“ Wissenschaft den zielgerichteten Austausch zwischen Forschung, Politik, Wirtschaft, Land- und Forstwirtschaft, Naturschutz und Zivilgesellschaft. Mehr Informationen unter www.feda.bio

Pressematerial

Sechs Lebensräume hat der Faktencheck Artenvielfalt unter die Lupe genommen. Diese werden in einer Tortengrafik gezeigt: Agrar- und Offenland, Wald, Binnengewässer und Auen, Küsten und Küstengewässer, Urbane Räume und Boden.

Untersuchte Lebensräume

Diese sechs großen Lebensräume wurden im Faktencheck Artenvielfalt untersucht: Agrar- und Offenland, Wald, Binnengewässer und Auen, Küsten und Küstengewässer, Urbane Räume und Boden.

Bild: Daniela Leitner / Faktencheck Artenvielfalt

Gruppenfoto von einigen der knapp 150 Autorinnen und Autoren des Faktencheck Artenvielfalt auf dem ersten großen Autorentreffen in Leipzig im April 2022.

Autorentreffen Leipzig

Gruppenfoto von einigen der knapp 150 Autorinnen und Autoren des Faktencheck Artenvielfalt auf dem ersten großen Autorentreffen in Leipzig im April 2022.

Bildrechte: Jule Wiegand

Cover von Faktencheck Artenvielfalt

Faktencheck Artenvielfalt

Faktencheck Artenvielfalt. Bestandsaufnahme und Perspektiven für den Erhalt der biologischen Vielfalt in Deutschland.
Christian Wirth, Helge Bruelheide, Nina Farwig, Jori Maylin Marx, Josef Settele (Hrsg.), oekom-Verlag, 2024.

ISBN: 978-3-98726-095-7
Erscheinungstermin: 01.10.2024

DOI: https://doi.org/10.14512/9783987263361

Cover Faktencheck Artenvielfalt, Zusammenfassung für die gesellschaftliche Entscheidungsfindung

Faktencheck Artenvielfalt - Zusammenfassung

Faktencheck Artenvielfalt. Bestandsaufnahme und Perspektiven für den Erhalt der biologischen Vielfalt in Deutschland. Zusammenfassung für die gesellschaftliche Entscheidungsfindung.
Christian Wirth, Helge Bruelheide, Nina Farwig, Jori Maylin Marx, Josef Settele (Hrsg.), oekom-Verlag, 2024.

ISBN: 978-3-98726-096-4
Erscheinungstermin: 01.10.2024
DOI: https://doi.org/10.14512/9783987263378

Literaturdatenbank Faktencheck Artenvielfalt

Zur Literaturdatenbank Faktencheck Artenvielfalt.

Prof. Christian Wirth

Christian Wirth

Herausgeber Prof. Dr. Christian Wirth ist Pflanzenökologe und Biodiversitätsforscher. Mit dem Team der Projektleitung koordiniert er als Vorsitzender den Faktencheck Artenvielfalt. Er vertritt den Themenbereich „Ökosystemleistungen“. Er unterstützte insbesondere die Kapitelgruppen „Wald“ und „Binnengewässer und Auen“.

Foto: Antje Gildemeister

Prof. Helge Bruelheide

Helge Bruelheide

Herausgeber Prof. Dr. Helge Bruelheide ist Vegetationsökologe und Biodiversitätsforscher. Er vertritt den Themenbereich „Trends & Direkte Treiber“ zur Quantifizierung von Biodiversitätstrends über alle Artengruppen an Pflanzen und Tieren sowie der Analyse der direkten Treiber dieser Trends. Er unterstützte insbesondere die Kapitelgruppen „Agrar- und Offenland“ und „Urbane Räume“.

Foto: Helge Bruelheide

Prof. Dr. Nina Farwig

Nina Farwig

Herausgeberin Prof. Dr. Nina Farwig ist Naturschutzökologin und Biodiversitätsforscherin. Als Co-Vorsitzende trägt sie zur Koordination des Faktencheck Artenvielfalt bei. Sie vertritt den Themenbereich „Instrumente & Maßnahmen“, unterstützte insbesondere den Themenbereich „Indirekte Treiber“ sowie die Kapitelgruppe „Küsten und Küstengewässer“.

Foto: S. Rösner

Dr. Jori Maylin Marx

Jori Maylin Marx

Herausgeberin Dr. Jori Maylin Marx hat globalen Wandel studiert, mit Fokus auf die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik und hat eine Promotion in der theoretischen Ökologie. Sie unterstützt die Projektleitung als wissenschaftliche Koordinatorin und hat mit Prof. Christian Wirth den Themenbereich „Ökosystemleistungen“ bearbeitet. Sie arbeitete insbesondere den Kapitelgruppen „Wald“ und „Binnengewässer und Auen“ zu. 

Foto: Heike Müller

Prof. Dr. Josef Settele

Josef Settele

Herausgeber Prof. Dr. Josef Settele ist Agrarbiologe und Entomologe. Mit dem Team der Projektleitung koordiniert er als Co-Vorsitzender den Faktencheck Artenvielfalt. Er hat in den letzten Jahrzehnten vor allem im Bereich Science-Policy-Society gearbeitet und zentrale Rollen beim IPCC und bei IPBES eingenommen. Er vertritt den Themenbereich „Trends & Direkte Treiber“. Er unterstützte insbesondere die Kapitelgruppen „Bodenbiodiversität“ und „Transformationspotenziale“.